Zum ersten Mal in meinem Leben wähle ich 110, und sofort setzt starke seelische Beruhigung ein durch den streng formalisierten Ablauf des Gesprächs. Kopfschmerzen, Sinusitis, Amitriptylin – ich spüre, dass mein Gegenüber zweifelt. Umfallen, auf den Bauch und nicht wieder aufstehen können – die Zweifel hören auf, die Fragen beginnen. Seitenflügel, vierter Stock? Sind Sie allein zu Haus? Können Sie die Tür öffnen? Ja klar, Mann, so weit kommt das noch, dass ich meine Tür nicht öffnen kann. „In fünf Minuten sind wir da.“ Das gibt mir Zeit, mich halb liegend, halb sitzend anzuziehen, anhaltend froh über das Bewusstsein einer höheren Ordnung, einer im Hintergrund arbeitenden und sinnreich von Menschen für Menschen erdachten Maschine, mit der einer lebensbedrohlichen Situation routiniert und regelkonform begegnet werden kann. Man möchte so etwas nicht in Marokko erleben. Eigentlich nicht mal in Italien.

Wolfgang Herrndorf (Arbeit und Struktur)

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Der Hof des Gefängnisses war grell beleuchtet, die Scheinwerfer an den Wänden waren eingeschaltet. Die Gesichter der Menschen waren weiß, alles sah aus wie in einem überbelichteten Film. Ein Lastwagen stand in der Mitte, die hintere Plane war zurückgeschlagen. Die Gefangenen kletterten auf die Lade und setzten sich auf die Bänke. Vier Soldaten bewachten sie, sie hatten Maschinenpistolen. [...]. Keiner schrie Befehle, keiner wehrte sich.

Der Fall Collini (Ferdinand von Schirach)